• KG_Schneeflocke
Mein Blick huschte zur Seite. Nicos lauwarme Atemwolke glitt träge aus seinen Nasenlöchern und vermischte sich mit der eisernen Kälte, die um uns herum herrschte. Der aschfahle Schal aus Kaschmir umhüllte sein Gesicht und verlieh ihm dabei eine unendliche Verzagtheit. Seine Augen starrten ausdruckslos in den Himmel und schienen nicht mehr zu sehen, als die finstere Leere. Ich schaute wieder hoch. Draußen war es schon längst dunkel geworden, doch inmitten aller Schwärze, schimmerten die unzähligen Eiskristalle, an deren Oberfläche sich das Licht des Mondes widerspiegelte.

Wusstest du, dass die Schneeflocken beim Fallen ins Wasser lachen? Nun ja, die Forscher behaupten, dass sie einen Ton erzeugen, der eine Frequenz von bis zu 200 Kilohertz aufweist, sodass wir ihn nicht wahrnehmen können, aber ich stelle mir gerne vor, dass sie dabei schmunzeln. Die Schneeflocken sind glücklich, und zwar immer. Sie stürzen nicht einfach so, ihrem Schicksal ergeben, früher oder später in einer beschmutzten Pfütze zu münden. Nein. Solange die Luftströmung sie trägt, tanzen sie elegant, schwingen furchtlos über ferne Berge und Städte, flattern über spielende Kinder. Irgendwann verschmelzen sie, mit einem Lächeln als Erinnerung an die Melodie des Windes. Manchmal verbleibt ihnen ein letztes Mal den Schneemann zu bauen oder sie lösen sich bei einer Schneeballschlacht auf, zuweilen enden sie jedoch direkt in einem Wasserbrunnen voller Wünsche der Passanten.

Beim letzten Satz hielt ich abrupt inne. Früher haben wir so viele unbeschwerte Stunden im Winterwunderland verbracht, seitdem hat sich aber allerlei geändert. Unwillkürlich muss ich an Nicos Haare denken. Er hat sie sich geschnitten, obwohl er seine langen Haare mochte. Die Jungs aus unserer Schule allerdings nicht. Ein heftiger Windstoß ließ ihn erschauern. Ich reichte ihm meine zartrosa Mütze, die er dankend annahm. Dass er sich auf die Innenseite seiner Wange biss, verriet mir dennoch seine Verlegenheit. Mir war klar, dass ihn so keiner sehen sollte, aber tief ihn mir verstand ich es nicht.

Wusstest du, dass jede einzelne Schneeflocke einzigartig ist? Sie alle haben unterschiedliche Größen, Formen, nehmen einen anderen Weg, und dennoch schweben sie friedlich nebeneinander. Anscheinend haben sie gelernt, zwischen ihrem Individuum und dem Kollektiv zu balancieren. Das höchste Gut dabei vermag auch für sie die Perfektion zu sein, aber nicht in der breiten Welt, sondern in ihrer eigenen Existenz. Solange sie die Vollkommenheit als meisterhaftes Können sie selbst zu sein erfassen, bedarf es keinen Vergleich mit den anderen, sondern lediglich ihre unperfekte Authentizität. Daraus folgt die Harmonie, welche ihre Bindung überhaupt erst möglich macht, die für uns in Form von Schnee sichtbar wird. Es ist eine höhere Gewalt, die sie zusammenführt, und sie sind es, die es akzeptieren. Hierbei bedarf es keinen Maßstäben, Richtlinien oder gar Normen, damit sich das weiche Pulver bildet. Ganz im Gegenteil. Aus ganz vielen Schönheiten bildet sich etwas Großartiges. 

Das Knarren eines abgenutzten Holzfensters durchbohrte bissig die Stille, von der unser abgelegenes Dorf gekennzeichnet ist. Plötzlich hörte man gedämpfte Stimmen, womöglich lauschte einer der Nachbarn dem Radio. Zwischen Silben und Betonungen verlor sich die Bedeutung. Es wurde nur geredet, damit irgendetwas gesagt ist, wobei der Fokus allmählich von dem eigentlichen abwich, und sich immer mehr und mehr in wahnwitzigen Machtspielen und endlosen Wortgefechten verirrte.

Wusstest du, dass Schnee alles leiser macht? Die Luft darin sorgt dafür, dass Schall verschluckt wird und Geräusche leiser ertönen. Es ist so, als ob es eine beruhigende Decke für unser unruhiges Leben wäre. Stell dir vor, wir hätten eine riesige Plane und würden die ganze Erde damit, zumindest für einen Moment, bedecken. Eine kleine Ewigkeit frei von der Hektik des Alltags, ohne Summen der Handys, ohne Knistern der Geldscheine, ohne Geraschel der Akte, ohne Schreie der Kriege. Wir könnten sagen: „Das war nur ein grauenvoller Albtraum. Schlaf schön weiter, Welt. “

Neben mir hörte ich Nico hauchzart flüstern: „Du bist meine Schneeflocke.“