LEHRZEICHEN: Ein Jahr Ukraine-Krieg – Gewöhnen wir uns an Krieg?
Ein Kommentar von Nele Kluge:
Der 24.02.2022 – Die russische Armee greift die Ukraine an. Die Schlagzeilen übertrafen sich bereits um 6 Uhr morgens, „Ukraine“ hallte in den Schulgängen wider und legte sich wie eine graue Wolke über jedes Gesprächsthema. Seitdem waren Beiträge über den Ukraine-Krieg Teil jeder Nachrichtensendung. Über 1500 km entfernt und doch morgens im Radio, mittags in der Zeitung und abends im Fernsehen. Diskussionen über die deutsche Rolle bei Waffenlieferungen und unzählige Aufrufe zum Spenden begleiteten den Alltag.
Doch Monat um Monat schlich sich der Krieg aus den aktuellen Gesprächen, die zuvor hoch relevanten Nachrichten wurden weniger gelesen – denn schließlich dreht sich die Welt weiter, oder? […“]
Unser europäischer, wohlhabender und sicherer Teil der Welt dreht sich weiter. Er dreht sich um unsere Träume, Ziele und Schwierigkeiten. In der Ukraine scheint die Welt aber teils stehen geblieben. Sie ist für die Mutter stehengeblieben, die ihren Sohn verloren hat. Für die Kinder, die ihre Eltern nie wieder sehen werden. Für die Menschen, die jegliche Hoffnung verloren haben. Inwiefern ist es also legitim, dass sich zunehmend weniger Menschen mit diesem Leid auseinandersetzten, dass sie sich scheinbar daran gewöhnt haben? Denn schließlich liegt dieser Krieg keine 2000 Kilometer von uns entfernt.
Grundsätzlich ist das Gewöhnen an verschiedenste Umstände eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Wir gewöhnen uns an das leicht zu kalte Wasser der Dusche, den jährlich neuen Stundenplan oder den Duft unseres Lieblingsessens. Jedoch gewinnt diese Eigenschaft einen zynischen Beigeschmack, wenn wir uns an menschliche Grausamkeit gewöhnen. Damit dieser Effekt eintritt, muss der Umstand nämlich wiederholt vorhanden sein. Die Gewöhnung an Krieg wäre also ein Zeugnis der menschlichen Unfähigkeit für Frieden. Und das hört sich nicht nur ziemlich deprimierend an, es ist auch deprimierend.
Um uns nicht an Gräueltaten, unaussprechliches Leid und Krieg zu gewöhnen und diesen dabei zu normalisieren, reicht dies schon aus: Bewusstsein für unsere Privilegien und Lebensstandards zu entwickeln, während wir in Gedanken bei denen sind, die diese nicht genießen können. Denn Krieg kann nie zu einer Gewohnheit werden, er darf nie normal werden. Dafür ist Frieden viel zu schön.