Es sind die kleinen Dinge…
(Paula Butscher, Klasse 10)
Ich sitze auf meinem Stuhl und starre auf das Arbeitsblatt vor mir. Bemüht versuche ich, den Wörtern darauf zu folgen. Monoton wird jeder Buchstabe vorgelesen. Auf dem Tisch liegt mein Bleistift, und da mich der Lehrer von da vorne eh nicht sehen kann und zudem offensichtlich damit beschäftigt ist, der Vorlesenden zu folgen, beginne ich, feine Linien auf mein Blatt zu zeichnen. Ich konstruiere dreidimensionale Körper und pflanze Blumen auf meinem Blatt. Als mir selbst das zu langweilig wird, lege ich meinen Bleistift zur Seite und ziehe möglichst unauffällig den Pulloverärmel meines linken Arms etwas höher, sodass ich die Uhrzeit erkennen kann. Ich seufze leise. Noch 25 Minuten! Die Rolle des Lesenden wird umverteilt, mit dem gleichmäßigen Ticken der Wanduhr mischt sich nun eine tiefere, aber nicht motiviertere Stimme. In der Hoffnung nach einem winzigen Schub Energie schließe ich kurz die Augen und nehme mir vor, mich zu konzentrieren. Angestrengt lese ich Wort für Wort und bemühe mich, mir das Gelesene auch zu merken. Hoffnungslos! Nicht nur ist es die letzte Stunde vor dem Mittagessen, der Text vor mir ist auch reine Wiederholung und meines Erachtens nach nicht besonders relevant. Ich gebe den Versuch der Konzentration auf und sehe mich lieber vorsichtig etwas um. Mein Blick geht zur Seite und ich sehe meine Sitznachbarin. Auch sie hebt den Kopf und wirft mir einen gequälten Blick zu. Meine Mundwinkel heben sich ironisch amüsiert und ich sehe an ihr vorbei, dass es den anderen ähnlich gehen muss wie uns. Ich sehe einige, die mühelos zwischen gescannter Kopie und virtuellem Schachbrett hin- und her wischen, andere, die, wie vorher ich, ihre künstlerischen Aggressionen auf den eigenen Blättern oder denen anderer auslassen und entdecke sogar einen aufgeschlagenen Roman in der letzten Reihe. Teils pubertären Stimmungsschwankungen, teils den langweiligen Arbeitsaufträgen geschuldet, passt hier irgendwie niemand mehr richtig auf. Außer dem Pechvogel, der vorlesen muss, schenkt auch niemand seinem Blatt mehr wirklich Beachtung (die ambitionierten Künstler natürlich ausgenommen.)
Plötzlich geht ein Ruck durch die Reihe vor uns und ich sehe, wie sich mit dem Ellenbogen angestupst wird. Die Köpfe drehen sich zum Fenster. Verwirrt folge ich den Blicken mit den Augen und nach kurzem Suchen entdecke ich den Grund der Aufregung. „Ein Eichhörnchen!“, ruft einer unverblümt und alle drehen die Köpfe. Ich zeige meiner Nebensitzerin mit dem Finger die Richtung, bis sie es auch sehen kann und aufgeregt quiekt. Die an der Wand Sitzenden stehen auf und recken die Hälse. Unser Lehrer ist ebenfalls aufgestanden und zum Fenster gelaufen. Mit leuchtenden Augen verfolgen alle das kleine Tier, wie es scheinbar mühelos von Ast zu Ast klettert. Ich kichere darüber, wie fasziniert und begeistert eine zehnte Klasse beim Anblick eines kleinen Eichhörnchens ist, als wäre es Weihnachten und man dürfte die Geschenke vor dem Essen öffnen. „Oh mein Gott! Es hat einen Backflipp gemacht!“, ruft plötzlich eine ganz laut. Ein anderer stellt scherzend fest: „Es ist einfach ein Ninjahörnchen!“ Andere pflichten lachend bei.
Eins ist klar: Das Backflipp machende Superhörnchen hat uns sowas von den Tag gerettet!