Weiter kam ich nicht, denn mein Füller hinterließ quietschend am kalkweißen Blatt nur noch furchtbare Kratzer und verwies mich dabei unumstößlich darauf, dass ich neue Tinte brauchte. Meine Hand tastete sich entlang des klapprigen Mäppchens, welches mittlerweile seit einigen Jahren in meinem Besitz war, fand dort aber nichts weiter außer einigen Holzspänen und einem abgenutzten Radiergummi. Vor mir saß mein Lehrer, welcher in wenigen Minuten eine Erörterung zum Thema Jugend und die Technologie erwartete und die Warterei mit Onlineshopping verbrachte. Wie ich das wissen konnte? Scheinbar wurde unseren Lehrkräften bei der Einführung digitaler Tafeln lediglich erklärt, wie man Inhalte spiegeln kann, nicht aber wie man die Verbindung anschließend trennt. Somit konnten alle desinteressierten Schüler ihre Blicke von verhältnismäßig eintönigen Pausenhofschaufenstern nehmen und diese stattdessen auf die abwechslungsreichen Inhalte von Windows richten. Im heutigen Fall bot sich ihnen sogar die Chance, über die exklusiven Rabatte in der Sportabteilung zu staunen. In der unteren Ecke der Tafel stand überdeutlich die erschreckende Zeitangabe 12:21. Demnach blieben nur noch neun Minuten, bis ich den Text abgeben musste. Weil ich keine andere Wahl hatte, bereitete ich mich mental auf die anstehende Suche nach einer Tintenpatrone vor. Ein Blick nach rechts genügte, um meine Sitznachbarin in der App Candy Crush zu erwischen. Weil sie so hoch konzentriert hinunter zu ihrem Handy blickte, als ob ihr ganzes Leben nun davon abhängen würde, ob das nächste Bonbon pink oder orange wäre, überraschte es mich nicht, dass sie meine Ellenbogenstöße nicht bemerkte. Somit musste ich anderswo Hilfe suchen. Zu meiner Linken befand sich meine beste Freundin, welche zwar auf ihrem Tablett im Unterricht mitschrieb, gut möglich aber, dass sie doch noch ein paar analoge Schreibutensilien dabei hatte. Schließlich hatten wir heute eine Klassenarbiet geschrieben. Doch auch sie schien von meinem Aufrütteln nicht viel mitzubekommen. Ich streckte meinen Hals ein klitzekleines bisschen mehr in ihre Richtung und erblickte einen WhatsApp-Chat mit ihrem Freund voller Herzchen und Selfies aus dem Klassenzimmer, die selbstverständlich zig Filter kennengelernt hatten, bevor sie verschickt werden konnten. Mit einem schiefen Lächeln drehte ich mich weg. Natürlich bin ich froh, wenn meine Herzensmenschen ihre Seelenverwandten finden. Jedoch überwiegt bei mir die Skepsis darüber, ob der coole Basketballspieler nicht einfach ein Algorithmus zum Datensammeln oder gar noch schlimmer, ein Jemand aus Fleisch und Blut war, der wohl eher nicht unserem Alter entsprach, sich aber erfolgreich hinter der Tastatur seines Rechners verstecken konnte. Hinter mir entdeckte ich zwei Mitschüler, welche ernsthaft vertieft in ihre Endgeräte zu sein schienen. Wie es sich herausstellte, betätigte der eine an seinem Laptop ChatGPT und erledigte somit wie ein waschechter Vorzeigeschüler gewissenhaft und in Sekundenschnelle seine Schulaufgaben, während sich der andere mit seinem Apple Stift an einer Karikatur verkünstelte. Ihre Antwort auf meine Frage war ein entschlossenes Kopfschütteln. Traurig richtete ich mich in meinem Stuhl auf und zuckte zusammen wegen der noch verbliebenen Zeit. Um Himmels willen. Ich hatte nur noch zwei Minuten, was im Umkehrschluss bedeutete, dass ich erledigt war. Meine Sitznachbarin, welche wahrscheinlich verloren hat, da sie endlich von ihrem leuchtenden Bildschirm hochschaute, versuchte mich zu besänftigen: „Hey, ist ja nicht so wild. Der wird's eh nicht kontrollieren. Und sogar wenn, sagst du halt einfach, dass dein Akku leer ist.“ Mit einer hochgezogenen Augenbraue funkelte ich sie böse an, denn ich schreibe auf Papier, was man, aufgrund der Tatsache, dass ich in der ersten Reihe saß, überdeutlich erkennen konnte. Doch genau in dem Moment, als ich schon verzweifeln wollte, sprang unser Lehrer in die Lüfte und rief panisch: „Die Stunde ist für heute beendet. Ich brauche unbedingt WLAN und die Verbindung in diesem Raum ist gerade abgestürzt.“ Mit diesen Worten verließ er ein Klassenzimmer voller zufriedener Schüler. Somit konnte ich die Antwort auf meine Hypothese gedanklich ergänzen und das Schulsystem wirklich loben.
Also, wenn das heute kein empirisch angeeignetes Wissen war, wusste ich auch nicht.